Krankenhausessen beeinflusst Heilungschancen – oftmals zum Schlechten
Jeder vierte Krankenhauspatient ist von Mangelernährung betroffen. Die Folgen – mehr Komplikationen, schlechtere Heilungsverläufe, höhere Sterblichkeitsraten – sind wissenschaftlich gut beschrieben. Politisch wird das Problem hingegen weitgehend ignoriert. Dabei gibt auch die Corona-Pandemie Anlass, dies zu ändern.
Als die US-amerikanische Agentur für Forschung und Qualität im Gesundheitswesen (AHRQ) im Oktober vergangenen Jahres ihre große systematische Review zum Thema Mangelernährung in Kliniken vorlegte, sah sie vieles klar belegt: Dass mangelernährte Patient:innen, die aufgrund einer schwerwiegenden Erkrankung ins Krankenhaus müssen, mit schlechteren Heilungsverläufen rechnen müssen. Dass es bei ihnen häufiger zu Komplikationen kommt. Dass sie länger in der Klinik bleiben müssen und die Sterblichkeitsquote unter ihnen im Vergleich zu gut Genährten größer ist, auch dafür fand die US-Behörde deutliche Hinweise. Studien aus 20 Jahren hatte sie dafür ausgewertet.
Mangelernährung im Krankenhaus: Jeder vierte betroffen
In Deutschland hatte die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) 2019 versucht, das Thema Mangelernährung bei Patient:innen in Krankenhäusern in die öffentliche Diskussion zu bringen. Dies sei ein „relevantes Gesundheitsproblem“ mit „gravierenden Folgen“, warnte sie. Auch deshalb, weil es sich keineswegs um ein Randphänomen handelt. Am „Nutrition Day“ 2018 der gleichnamigen Initiative zur Untersuchung der Ernährungssituation in Kliniken hatte die DGE für einen Stichtag Informationen über 767 Patient:innen in 48 deutschen Krankenhausstationen ausgewertet. Mehr als 35 Prozent der Patient:innen stufte sie anhand internationaler Kriterien als mangelernährt ein. Immer wieder taxieren Studien den Anteil der Patient:innen mit einem erheblichen Risiko für Mangelernährung auf ein Viertel aller Klinikpatient:innen oder sogar mehr.
Zu den Folgen einer Mangelernährung – dazu zählen erhöhte Infektanfälligkeit, gestörte Wundheilung, längere Genesungsprozesse, erhöhte Sterblichkeit – gibt es eindeutige Befunde. Die österreichische Ernährungswissenschaftlerin Angelika Beirer wertete für eine 2021 veröffentlichte Übersichtsarbeit die weltweite Forschung zum Thema Mangelernährung und Krebs aus. Sie kommt auf dieser Basis zu dem Schluss, dass bei bis zu 20 Prozent der verstorbenen Krebspatient:innen nicht ihre Erkrankung, sondern Mangelernährung die Todesursache ist. Andere Studien kamen teilweise zu noch höheren Anteilen.
Krankenhausessen: Der „Elefant im Raum“
Für den US-amerikanischen Onkologen Declan Walsh ist dieses Thema in der Krebsmedizin der „Elefant im Raum“: Alle wissen, dass er da ist – doch niemand kümmert sich so richtig um ihn. Die Beobachtung lässt sich auf viele andere medizinische Bereiche übertragen. Neben Tumorerkrankten sind besonders Menschen mit Magen-Darm-Erkrankungen und Patient:innen der Geriatrie (Altersmedizin) von Mangelernährung betroffen. Bei Älteren, denen es oft an ausreichend Eiweiß fehlt, kommt es häufiger zu Stürzen und funktionellen Einschränkungen, auch sie sterben unabhängig vom Alter häufiger im Krankenhaus als Normalgenährte, wie eine vor wenigen Monaten veröffentlichte Auswertung der Hochschule Esslingen nahelegt.
Kurzum: Das Thema Mangelernährung in der Klinik sei „essenziell für Millionen Patient:innen“, komentiert Martin Smollich, Professor für Pharmakonutrition am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein – „und trotzdem bei keiner Partei auf der politischen Agenda.“
Das war keineswegs immer so. Im Jahr 2003 verabschiedete der Europarat eine Resolution, in der er die Zahl mangelernährter Krankenhauspatient:innen als „inakzeptabel“ bezeichnete. Im Anhang: eine lange Liste dringender Empfehlungen, was gegen das Problem zu tun sei. Was wurde daraus, bald 20 Jahre danach?
Das Bundesgesundheitsministerium hat dazu „keine Erkenntnisse“, teilt es auf Anfrage mit. Politischen Handlungsbedarf sah es bisher ohnehin nicht: „Für die Verpflegung im Krankenhaus sind die Kliniken im Rahmen ihrer Organisationshoheit selbst verantwortlich. Eine gesunde und patientenorientierte Verpflegung erscheint insoweit als Aspekt, bei dem sich die Krankenhäuser im Wettbewerb um die Patientinnen und Patienten in eigenem Interesse engagieren“, hieß es Mitte 2020, noch unter Leitung des CDU-Politikers Jens Spahn, in einer Antwort des Ministeriums auf eine parlamentarische Anfrage. Den Positionen habe es „heute nichts hinzufügen“, erklärt eine Sprecherin auf MedWatch-Anfrage im Januar 2022, verwies dabei aber auch auf die noch kurze Amtszeit der neuen Regierung und darauf, dass die Priorität bei der Pandemiebekämpfung liege.
Mangelernährung und Pandemie
Doch gerade für die Pandemiebekämpfung ist das Thema von Bedeutung: Erste Studien deuten darauf hin, dass Mangelernährung ein Risikofaktor für schwere COVID-19-Verläufe ist. Aus Sicht der Europäischen Gesellschaft für klinische Ernährung und Stoffwechsel (ESPEN) gehören mangelernährte Menschen zu den Personengruppen mit der höchsten Sterblichkeit an COVID-19, weshalb sich die Gesellschaft für ein konsequentes Screening und eine Integration von Ernährungstherapie in die Behandlung ausspricht. Zur Rolle von Mangelernährung in der Pandemie erklärt das Bundesgesundheitsministerium abermals: „Dazu haben wir keine Erkenntnisse.“
Die Verbände verlangen Veränderungen vom Medizinstudium bis hin zur klinischen Praxis. So sollen Hochschulen Lehrstühle für Ernährungsmedizin einrichten und die bisher nur rudimentär vorkommenden Ernährungsinhalte stärker in die Curricula bringen – die Bundesvertretung der Medizinstudierenden sekundierte jüngst in einem Positionspapier. Bis hin zu den Ärzt:innen fehlt in vielen Gesundheitsberufen die Kompetenz für Ernährungsbelange.
Fachgesellschaften sind da weiter. Nicht nur aktuell bei COVID-19-Erkrankten fordern sie ein konsequentes Ernährungsmanagement an den Kliniken, sondern seit Langem grundsätzlich. „70–80 Prozent aller Krankheiten haben eine Ernährungsursache, einen Ernährungshintergrund oder eine ernährungstherapeutische Konsequenz“, heißt es in einem Papier des Bundesverbandes Deutscher Ernährungsmediziner (BDEM), der Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) und der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin (DAEM). (Lesen Sie auch unser Interview mit Johann Ockenga. Er ist Direktor der Medizinischen Klinik II am Klinikum Bremen-Mitte, Kongresspräsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) und Mit-Verfasser mehrerer Leitlinien zur klinischen Ernährung).
Milliardenkosten im Gesundheitssystem: Schaffte es das Thema Mangelernährung im Krankenhaus einmal prominent auf die politische Agenda, gaben vor allem ökonomische Gründe den Anlass. Wie 2009, als eine internationale Konferenz auf Einladung der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft das Ziel ausgab, Mangelernährung zu „stoppen“.
Zuvor hatte Olle Ljungqvist, damaliger Präsident der Europäischen Gesellschaft für klinische Ernährung und Stoffwechsel (ESPEN), eine Schätzung veröffentlicht, der zufolge Mangelernährung in den europäischen Gesundheitssystemen jährliche Kosten von mindestens 170 Milliarden Euro verursache. Für diese Angabe hatte der Chirurg britische Daten hochgerechnet. Exakte Daten gibt es bis heute nicht. 2007 schätzte die Unternehmensberatung Cepton in einer industrienahen Studie die im deutschen Gesundheitssystem anfallenden Kosten mit neun Milliarden Euro. Der größte Teil – fünf Milliarden Euro – entstehe demnach in den Kliniken infolge höherer Behandlungskosten und längerer Aufenthalte. Weshalb es für die Krankenhäuser sogar betriebswirtschaftlich vorteilhaft sein dürfte, in Ernährungstherapie zu investieren: Mit vergleichsweise überschaubarem Ressourceneinsatz ließen sich Aufenthaltsdauern verkürzen und die Kosten für die aufwändigere Behandlung mangelernährter Menschen senken.
Für eine Verankerung der Ernährungstherapie im zur Krankenhausfinanzierung angewandten Fallpauschalensystem (DRG) und verbindliche Leistungsbeschreibungen spricht sich gegenüber MedWatch auch der Verband der Diätassistenten (VDD) aus. Patient:innen müssten auf Mangelernährung gescreent, die Verpflegung auf die individuellen Bedarfe angepasst werden: Darin sind sich viele Verbände einig.
Aus Sicht des VDD müsste in jeder Klinik eine eigene Abteilung für das Ernährungsmanagement zuständig sein – nach dem Vorbild der Physiotherapie. Wie dort sollen Ärzt:innen zudem auch im ambulanten Bereich bei Bedarf Verordnungen für Ernährungstherapie ausstellen können, so dass diese zur Kassenleistung würde: „Nur so kann die Mangelernährung dort, wo sie meist entsteht – nämlich im häuslichen Umfeld – nachhaltig bekämpft werden“, so VDD-Präsidentin Uta Köpcke.
Krankenhausessen: Fünf Euro für Lebensmittel am Tag
Die Tendenz ist eher gegenläufig. An den Kliniken heißt es Kosten sparen: Einer Befragung des Deutschen Krankenhausinstituts zufolge gaben sie 2018 rund fünf Euro pro Tag und Person für Lebensmittel aus – preisbereinigt 14 Prozent weniger als noch 2006. Verbindliche Qualitätsvorgaben für die Verpflegung fehlen. Auch die Stellen für Diätassistent:innen gehen deutlich zurück. Bei der von der DGE ausgewerteten Stichtagsuntersuchung von 2018 meldeten gerade einmal fünf der 48 teilnehmenden Stationen, dass sie entsprechende Stellen vorhielten.
Am Nachweis des medizinischen Nutzens fehlt es dabei nicht. Kompetente Ernährungsteams können mit einer auf die individuellen Bedürfnisse der Patient:innen eingestellten Ernährung das Wohlbefinden und die Heilungschancen der Erkrankten verbessern, ihre Leidenszeiten verkürzen und die Überlebenschancen erhöhen. Das belegt eine Schweizer Studie. Für die im Fachjournal The Lancet publizierte Untersuchung hatte die Forschergruppe zwischen 2014 und 2018 mit rund 2.000 Patient:innen an acht Kliniken in der Schweiz eine Interventionsstudie durchgeführt. Die Patient:innen waren mit unterschiedlichen Diagnosen – Infektionen, Krebs, Herz-Kreislauf‑, Magen-Darm‑, Lungen‑, Nieren- oder Stoffwechselerkrankungen – in die Klinik gekommen und zeigten zudem Anzeichen von Mangelernährung.
In der Studie erhielt eine Hälfte der Erkrankten die übliche Krankenhauskost. Bei der anderen Hälfte stimmten Diätassistenzen die Verpflegung gezielt auf die individuellen Bedürfnisse ab, insbesondere bei der Kalorienmenge, dem Eiweißanteil und Nährstoffgehalt, und sie berieten die Menschen. Das zeigte Wirkung: In der Gruppe mit Ernährungstherapie hatten die Menschen nach 30 Tagen ein um 21 Prozent niedrigeres Risiko für schwerwiegende Komplikationen oder eine deutliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes als jene Patient:innen, die die übliche Krankenhauskost erhielten.
Ernährungstherapie senkt Sterblichkeit
Trotz des kurzen Zeitraums der Intervention konnte eine Umstellung der Ernährung bereits in den wenigen Tagen des Klinikaufenthaltes einen Unterschied ausmachen – im Zweifel einen entscheidenden: In der Schweizer Studie waren nach 30 Tagen zehn Prozent der Menschen, die mit üblicher Krankenhauskost versorgt wurden, verstorben. Aus der Interventionsgruppe traf dies „nur“ auf sieben Prozent zu. Das Risiko, in diesem Zeitraum zu sterben, war mit Ernährungstherapie also um 35 Prozent verringert. Im Zweifelsfall könnte eine konsequente Intervention also über Leben oder Tod entscheiden.
Ein Schluss, den die US-Agentur für Forschung und Qualität im Gesundheitswesen teilt. In ihrer Review bestätigt sie die „Hinweise darauf, dass auf Mangelernährung ausgerichtete, vom Krankenhaus initiierte Maßnahmen die Sterblichkeit wahrscheinlich verringern und die Lebensqualität im Vergleich zu herkömmlich versorgten Patienten verbessern könnten.“
Dennoch adressiert der Koalitionsvertrag des Ampelbündnisses die Problematik der Mangelernährung in Kliniken nicht. „Die Umsetzung und die entsprechende Finanzierung der Verbesserung von Ernährung im Krankenhaus und in Pflegeeinrichtungen wurden nicht konkret vereinbart“, teilt die stellvertretende Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Maria Klein-Schmeink, auf Anfrage mit. „Diese Fragen werden im Zuge der Ernährungsstrategie behandelt werden.“ Eine solche ist bis 2023 angekündigt.
Im Vertrag gibt es noch einen weiteren Anknüpfungspunkt: In der Gemeinschaftsverpflegung will die Koalition die Qualitätsstandards der DGE als Standard „etablieren“. Was damit gemeint ist, ob die Ampel die Empfehlungen für eine ausgewogene Kost in Kliniken zur gesetzlichen Pflicht erklären möchte, bleibt offen – auch nach Anfrage bei allen Koalitionsparteien.
„Ja, die DGE-Standards sollen verbindlich eingeführt werden“, sagt zwar Katja Pähle, SPD-Fraktionschefin im Landtag von Sachsen-Anhalt und federführende Unterhändlerin ihrer Partei für die Gesundheitspolitik im Koalitionsvertrag. Zwischen den Ampelpartnern gebe es jedoch „nur im Grundsatz“ eine Verständigung darauf – welche Einrichtungen gemeint sind, „ist im Detail noch zu klären“. Aus Sicht von Pähle sollten Krankenhäuser und Pflegeheime dazu gehören: Sie wolle sich „gerne dafür einsetzen“.